Die SIGAB-Richtlinie 002 (SR 002) wurde im März 2017 herausgegeben als Ersatz für die SIGAB- Dokumentation „Sicherheit mit Glas“ aus dem Jahr 1999. Der überwiegende Teil der überarbei- teten SR 002 stellt die Betroffenen (Bauunternehmen, Bauherren, Handwerker, etc.) vor keine Probleme und ist ohne weiteres für die Praxis verständlich. Einzig die sog. «1-Meter-Regel» warf und wirft in der Praxis immer wieder Fragen auf. Vor diesem Hintergrund werden nachfolgend die wichtigsten Fragen zur SR 002 aufgegriffen und von der Interessengemeinschaft privater und professioneller Bauherren (IPB) sowie vom Schweizerischen Institut für Glas am Bau (SIGAB) beantwortet. Das Interview erfolgt daher mit dem Ziel, Klarheit über den Status der SR 002 zu schaffen.
A. Frage 1: Wer sind IPB und SIGAB und was ist ihre Beziehung zueinander? (Par- teien, Aufgaben und Tätigkeitsschwerpunkte)
1. IPB ist die Interessengemeinschaft privater und professioneller Bauherren zur Vertretung der Interessen von privaten professionellen Bauherren gegenüber Dienstleistern, Fachverbän- den, Behörden und anderen Organisationen. Die Hauptziele des Vereins mit Sitz in Winterthur sind die Mitwirkung bei der Neugestaltung von Verordnungen, Normen und Richtlinien, die Pro- fessionalisierung im Bereich Bau- und Immobilienfragen sowie die Förderung der Weiterbildung der Mitgliedsfirmen. Ausserdem ist ein Hauptaugenmerk auf die Weiterentwicklung des Nachhal- tigkeitsgedanken in der Immobilienwirtschaft gelegt.1
2. SIGAB ist das Schweizerische Institut für Glas am Bau. Als neutrale Fachstelle hat diese zum Ziel, die fachgerechte und sinnvolle Verwendung von Glas am Bau zu fördern. Die Stiftung mit Sitz in Schlieren erstellt Fachexpertisen, veröffentlicht Fachartikel und erlässt Richtlinien im Zusammenhang mit Glas am Bau.2
3. SIGAB und IPB sind eigenständige Interessensvertretungen, die im Bereich des Baugewer- bes tätig sind. Sie haben keine direkte Verbindung miteinander. Durch die technischen Spezifi- kationen, welche durch SIGAB veröffentlicht werden, ist es jedoch möglich, dass die Interessen von Bauherren berührt werden.
B. Frage 2: Welches ist der Zweck der SIGAB-RL 002 «Sicherheit mit Glas – Anforde- rungen an Glasbauteile»?
4. Die SIGAB-RL 002 (SR 002) befasst sich mit Einsatzmöglichkeiten von Sicherheitsglas bei der Errichtung von Glasbauteilen. Ziel ist es, auf die Gefahren bei der Verwendung von Glas als Baumaterial hinzuweisen und Möglichkeiten aufzuzeigen, diese Gefahren zu minimieren. Die Ver- wendung von Glas als Baumaterial wird immer beliebter und komplexer. Um diese Entwicklung zu unterstützen, wurde die SR 002 von SIGAB publiziert. Die Richtlinie enthält unverbindliche Empfehlungen, wann und wo die Verwendung von Sicherheitsglas sinnvoll ist.
C. Frage 3: Wann ist der Einsatz von Sicherheitsgläsern (z. B. Einscheiben- oder Ver- bund-Sicherheitsglas) angezeigt?
5. Die verschiedenen Glasprodukte können für unterschiedliche Sicherheitsanforderungen eingesetzt werden. Diese Anforderungen betreffen z.B. die Einbruchhemmung, Rutschhemmung, Absturz- oder Verletzungshemmung. Grundsätzlich legen Vertragsparteien für jedes Projekt in- dividuell fest, welche gewünschten Anforderungen an die verwendeten Bauteile zu stellen sind. Neben der Verordnung über die Unfallverhütung können Kantone und Gemeinden weitere Regeln aufstellen. Für die Ausgestaltung von Verträgen geben verschiedene Branchen ausserdem Ori- entierungshilfen heraus. In dem Sinne ist auch die SR 002 eine Orientierungshilfe.
D. Frage 4: Welches ist die Rechtsnatur der SIGAB-RL 002?
6. Die SR 002 weist einen empfehlenden Charakter auf und gilt grundsätzlich als technische Spezifikation i.S.v. Art. 2 Ziff. 10 BauPG von Normen und Regelungen, wie z.B. die SIA-Normen. Als solches ist die SR 002 unverbindlich, solange sie nicht durch eine gesetzliche Anordnung, eine Verordnung oder einen Akt des Bauherrn für ein oder mehrere spezifische Projekte als ver- bindlich erklärt wird. Das SIGAB ist der Auffassung, dass die SR 002 dem Stand der Technik entspricht. Derzeit ist jedoch noch offen, ob die SR 002 ganz oder teilweise als «anerkannte Regeln der Baukunde» gelten. IPB unterstreicht der Vollständigkeit halber, dass es bisher keine Behörden- oder Gerichtspraxis gibt, wonach die SR oder einzelne Regeln davon «anerkannte Regeln der Baukunde» wären.
E. Frage 5: Wer kann die SIGAB-RL 002 beiziehen?
7. Sofern keine behördlichen Auflagen bestehen, kann der Bauherr frei entscheiden, ob in dem konkreten Bauvorhaben für die Errichtung von Glasbauteilen die SR 002 beigezogen werden soll. Dabei wird der Bauherr einen individuellen Entscheid treffen und seine konkreten Anforde- rungen an Sicherheitsglas sowie die Auswirkungen auf die Baukosten berücksichtigen, bevor er die SR 002 als Vertragsbestandteil in den Werkvertrag aufnimmt.
F. Frage 6: Wie steht die SIGAB-RL 002 im internationalen Vergleich?
8. Die Schweizerischen Baunormen, wie z.B. die SIA-Normen wie auch die SR 002, orientieren sich an den entsprechenden europäischen Normen. Gemäss SIA-Normen 331 „Fenster und Fens- tertüren“, 343 „Türen und Tore“ und 329 „Vorhangfassaden“ sollen entsprechende Verglasungen eingebaut werden, wenn es das Risiko verlangt. Dieses Risiko wird im internationalen Vergleich unterschiedlich bewertet. In einem weiteren Sinne lehnt sich die SR 002 an Regelungen in den Nachbarländern an, jedoch sind die Regelungen in der Schweiz betreffend Sicherheitsglas auf eine freiwillige Anwendung ausgerichtet.
G. Frage 7: Können Bauherren gestützt auf die Empfehlungen gemäss SIGAB-RL 002 eine Verglasung nicht akzeptieren, weil es keine Sicherheitsgläser sind?
9. In den meisten Werkverträgen wird nicht auf die Empfehlungen der SR 002 verwiesen. Ohne expliziten Verweis bzw. Einbezug ist die SR 002 kein Vertragsbestandteil (vgl. auch oben Frage 4). Diesfalls kann der Bauherr die Annahme nicht verweigern, wenn sich das eingesetzte Glas nicht nach der SR 002 richtet.
10. Wurde die Anwendung der SR 002 durch den Bauherrn gewünscht und vertraglich verein- bart oder durch eine befugte öffentliche Stelle vorgeschrieben, so ist die SR 002 verbindlicher Vertragsbestandteil und daher anzuwenden. Entspricht die eingebaute Verglasung dann nicht der Vereinbarung, kann der Bauherr die Annahme verweigern.
H. Frage 8: Wie schätzen Sie die Wirkungen der SIGAB-RL 002 in der Schweiz bzw. in der Schweizer Fassadenbranche (nicht Schweizer Industrie) ein?
11. Richtlinien und Empfehlungen haben oft einen positiven Einfluss auf die Qualität eines Produktes. Gleichzeitig ist der Hang zu einer möglichst detaillierten Regelung oft kostentreibend und kostentreibende Faktoren sind volkswirtschaftlich grundsätzlich nicht erwünscht. Die Ver- tragsparteien müssen sich somit vor Vertragsabschluss immer überlegen, ob Verglasungen bei einem bestimmten Projekt tatsächlich ein Verletzungsrisiko darstellen und somit der Beizug der SR 002 für ein konkretes Projekt überhaupt notwendig ist. Die Sicherheit von Verglasungen kann z.B. auch durch eine kleinteilige Fenstergliederung erreicht werden.
I. Frage 9: Wie kann ein Planer oder ein Unternehmer seine Sorgfaltspflicht hinsicht- lich der Verwendung der angemessenen Glasqualitäten wahrnehmen?
12. Planer und Unternehmer sind gehalten, die Verletzungsgefahr bei der Verwendung von Glas beim Bau zu prüfen und den Bauherrn entsprechend zu informieren. Empfehlungen wie die SR 002 können den Planer oder den Unternehmer dabei unterstützen. Die SR 002 kann dabei als Planungswerkzeug dienen. Die involvierten Parteien sollen im Einzelfall mögliche Gefahren iden- tifizieren und entsprechend entscheiden, ob bei einem konkreten Projekt die SR 002 (verbindlich oder auch als unverbindliche Orientierung) einbezogen werden soll oder nicht. Der Entscheid muss für jedes Projekt individuell und unter Berücksichtigung aller relevanten Faktoren gefällt werden.
J. Frage 10: Befreit nach Ihrem Verständnis der Hinweis auf die Verwendung von Si- cherheitsglas den Planer und die Unternehmen von der Haftpflicht, wenn der Bau- herr kein Sicherheitsglas akzeptiert?
13. Das ist eine juristische Frage, die nur im konkreten Einzelfall entschieden werden kann. Grundsätzlich ist bei einem Haftungsanspruch eines Dritten gegen den Planer oder Unternehmer ein Akzept des Bauherrn unbeachtlich. Ein vertraglicher Anspruch des Bauherrn gegenüber dem Planer und Unternehmer entfällt jedoch durch sein Akzept.
K. Frage 11: Kann eine Risikoanalyse im Einzelfall das Haftungsrisiko aller involvierten Unternehmen reduzieren?
14. Eine Analyse des Risikos im Einzelfall ist sicherlich nützlich und kann in der Regel auch für alle involvierten Parteien haftungsmindernd sein. Der Entscheid darüber obliegt jedoch dem Bau- herrn und ist bei jedem Projekt individuell und unter Berücksichtigung aller relevanten Faktoren zu treffen.
Michel Rudin, AGON PARTNERS LEGAL AG, in Absprache mit SIGAB und IPB